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Wiener Jahre

Vadian zögerte nicht, sich der avantgardistischen humanistischen Richtung anzuschliessen. Er zählte sich fortan zu jenen Gelehrten, welche die Beschäftigung mit der antiken, vorab mit der lateinischen Literatur zu einem Selbstzweck und zu ihrem Lebensinhalt machten. Sie bewunderten die Weisheit und Eleganz der nichtchristlichen Denker des Altertums. Ja, sie bemühten sich, tausend Jahre nach dem Untergang des Römischen Reiches eine neulateinische Kultur aufzubauen.
So fingen sie selbst an, in lateinischer Sprache zu dichten. Äusseres Merkmal der Hinwendung des jungen St.Gallers zum Humanismus war seine Namensänderung. Aus Joachim von Watt wurde lateinisch Joachimus Vadianus (heute pflegt man meist abgekürzt Vadian zu sagen).

Schritt um Schritt erklomm Vadian die Stufen einer glanzvollen Gelehrtenlaufbahn. Er wurde Professor an der artistischen Fakultät und erhielt im Jahr 1516 sogar deren wichtigsten Lehrstuhl. Während er selber immer weiter lernte, war er gleichzeitig Lehrer. Mit Kollegen und Schülern zusammen lebte er in klosterähnlicher Wohngemeinschaft. Für einen damaligen Professor war es nicht üblich, zu heiraten. Vadian kümmerte sich väterlich um manchen seiner Studenten, so um seinen späteren Schwager Konrad Grebel und um Jakob Zwingli, Ulrichs jüngeren Bruder.

In echt humanistischer Weise verfasste Vadian eine grosse Anzahl lateinischer Schriften in Versen und in Prosa. Vieles davon ist im wortreichen humanistischen Durchschnittsstil rasch hingeworfen worden. Es befinden sich darunter aber auch ein so geistreiches und witziges Werklein wie der <gallus pugnans> und ein so gewichtiges Buch wie <De Poetica et Carminis ratione>. Das erstere ist eine Art <Prozess> zwischen Hühnern und Hähnen und deren Anwälten, wobei sich die Hühner in recht emanzipierter Art über die streitsüchtigen Hähne lustig machen. Das letztere ist eine umfassende Literaturgeschichte.

Zum Schreibenkönnen gehörte das Redenkönnen. Als im Jahr 1515 in Wien eine internationale Fürstenkonferenz stattfand, fiel Vadian die Ehre zu, die Begrüssungsansprache an den König von Polen zu halten!
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